Ein Denkmal im Jugendstil

Das Gebäude Ratswall 22 steht heute unter Denkmalschutz. Es handelt sich um ein stattliches, das Straßenbild prägendes Eckhaus.

Der Architekt des Gebäudes Ratswall 22 war Baumeister Fritz Gygas. Er hat das Stadtbild Bitterfelds entscheidend beeinflusst. Eindrucksvolle Bauten, wie das Hotel Kaiserhof (1893/94), die Weinhandlung Paul Polko (Lindenstr. 4) oder der 1897 ausgeschmückte Festsaal im Bitterfelder Rathaus, entstanden unter seiner Leitung.

1902 bekam Gygas von Albert Richter (siehe Tafeln 1 und 2) den Auftrag zur Errichtung eines repräsentativen Wohn- und Geschäftshauses. Die Einflüsse auf seinen Entwurf waren vielfältig.

Der Standort an einer Straßenecke zwischen Ratswall und Grünstraße hat das Erscheinungsbild des Hauses wesentlich beeinflusst. Er bot den prominenten Platz für ein Eckhaus mit einem großen Eck-Erker. Die Lage zu zwei Straßen erlaubt eine besonders breite Fassade, die formenreich gestaltet werden konnte.

In der Fassade sind die Einflüsse verschiedener Stilrichtungen erkennbar. Auf die Architektur jener Zeit wirkten mehrere Kunststile, darunter der Historismus und der Jugendstil. Beide Richtungen vereinen sich in Gygas‘ Entwurf für das Gebäude am Ratswall. Die Fassadenelemente erinnern an Stilrichtungen vergangener Jahrhunderte: der Eckerker in traditioneller Fachwerkbauweise, die barocken Formen des Schaugiebels und des darauf sitzenden Erkers an der Westfassade wie auch des Schaugiebels in der Grünstraße, ein antikisierender Fries unterhalb der Traufe, zwei Rundbogenportale sowie Rundbogenfenster in den beiden unteren Etagen und Renaissance-Vorhangfenster im 2. Obergeschoss. Die fließenden Formen der Fassadendekoration wiederum sind dem Jugendstil entlehnt. Zwei Kartuschen geben in geschwungener Majuskelschrift Auskunft über den Bauherrn und sein Geschäft. Schmuckbänder und dekorativ gestaltete Flächen zeigen Blattornamente und üppiges Laubwerk. Dazwischen gibt es mehrere einzeln platzierte Elemente. Man findet Bäume, Blätter, Blüten, Tier- und Menschenköpfe und mehr. Ebenso ist die heute noch vorhandene Wendeltreppe im Innern des Hauptgebäudes charakteristisch für den Jugendstil.

Die Intentionen und der Geschmack des Bauherrn, Albert Richter, hatten ganz offensichtlich ebenfalls großen Einfluss auf die Gestaltung des Gebäudes. Vielleicht haben sein Traditionssinn und sein Geschmack den Stilpluralismus hervorgebracht oder zumindest befördert. Bei der Motivwahl ist eindeutig sein Auftrag zu spüren. Richter wollte ein repräsentatives Haus. Er ließ die Fassade üppig und fantasievoll schmücken. Alle Dekorelemente – die Auswahl der Pflanzen und Tiere, die fünf in die Fassade und ein Kapitell eingearbeiteten Köpfe wie auch die Schrift in der Fassade –verweisen auf die Geschichte des Richterschen Unternehmens (siehe Tafel 1).

Viele Elemente lassen sich entschlüsseln. Jeder Besucher unseres Hauses darf sich ein eigenes Bild machen und seiner Fantasie freien Lauf lassen. Beginnen Sie einfach am Eingangsportal und dem sich darüber erhebenden, reich verzierten Erker. In der heute leeren Schriftrolle stand vielleicht einst das Baujahr: 1903.